"Gefährdungen der Demokratie frühzeitig erkennen"



Foto: Uwe Steinert

Rede von Zentralrats-Präsident Dr. Josef Schuster zur Eröffnung der DHM-Ausstellung „Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute“, 19.4.2016, Berlin

Anrede,

nach der Eröffnung der großartigen und erfolgreichen Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ im Januar dieses Jahres freue ich mich, heute wieder hier im Deutschen Historischen Museum zu sein. Wir eröffnen mit „Angezettelt“ eine nicht minder interessante Ausstellung. So verschieden die beiden Schauen auch sein mögen – es gibt eine Verwandtschaft zwischen ihnen. Denn das Grauen, das sich in manchen Bildern aus der Yad-Vashem-Sammlung widerspiegelt, wurde durch antisemitische Propaganda angezettelt, wie wir sie in der neuen Ausstellung finden.

Ich bin sehr froh, dass die Präsentation der Aufkleber und Klebemarken, die bereits im Jüdischen Museum Frankfurt und im Museum für Kommunikation in Frankfurt zu sehen war, vom Deutschen Historischen Museum umfassend ergänzt wurde. Die Ausstellung erhält dadurch und durch den prominenten Ausstellungsort ein noch größeres Gewicht. Ich danke den Verantwortlichen des Museums und des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin für ihr Engagement und wünsche Ihnen, dass die neue Ausstellung ebenso großen Zulauf erhält wie die „Kunst aus dem Holocaust“!

Antisemitische und rassistische Propaganda durch Aufkleber – das klingt auf den ersten Blick so antiquiert. Schließlich gibt es doch das Internet mit seinen Plattformen, die sich sozial nennen.

Als Zentralrat der Juden in Deutschland sind wir selbst regelmäßig Zielscheibe von antisemitischen Kommentaren auf Facebook. Was ist leichter, als von jedem Ort aus und zu jeder Zeit schnell ein paar hasserfüllte Sätze zu tippen und in die Welt zu senden?

Wozu braucht es da noch Aufkleber?

Doch dieser Werbeträger boomt, trotz Social Media, trotz Digitalisierung. Wenn man bei Google den Suchbegriff „politische Aufkleber bestellen“ eingibt, erhält man 130.000 Treffer.

Aufkleber an öffentlichen Orten haben gegenüber dem Internet einen großen Vorteil: Sie erreichen alle Menschen. Zudem noch mit einem Überraschungseffekt.

Ein Aufkleber gegen Atomkraft erregt auch die Aufmerksamkeit von Menschen, die sich im Internet vielleicht nie auf einer Anti-Atomkraft-Seite bewegt hätten. Ja, sogar von Menschen, die sich überhaupt nicht im Internet bewegen.

Sind Aufkleber über die ganze Stadt verteilt, haben sie auch noch einen Wiedererkennungswert und bleiben mit ihrer Botschaft wie ein Werbespot in unserem Gedächtnis haften.

Leider haben auch antisemitische Aufkleber diesen Effekt. Sie hatten ihn schon immer. Alte judenfeindliche Vorurteile fanden so den Weg in die Köpfe von noch mehr Menschen. Irgendwann wurden sie von der Mehrheit als wahr akzeptiert. Als Tatsachen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Ausstellung „Angezettelt“ zeigt sehr eindrücklich, wie stark die Nationalsozialisten auf bereits vorhandene antisemitische Vorurteile aufbauen konnten. Aufkleber, Klebemarken oder Handzettel mit politischer Propaganda greifen ja meistens eine Stimmung in der Gesellschaft auf, die bereits latent vorhanden ist. Ziel ist es, diese Stimmung zu verstärken.

Den Nazis ist dies mit damals sehr modernen Methoden schließlich perfekt gelungen. Juden wurden nur noch in so kleinen Teilen der Bevölkerung als gleichberechtigte Menschen wahrgenommen, dass die Massendeportationen und schließlich der Völkermord problemlos möglich wurden.

Hier, anhand dieser letztlich so kleinen Exponate, wird deutlich: Der Hass auf Juden war gesellschaftlich akzeptiert. Ganz normale Bürger versahen ihre Briefe mit antisemitischen Sprüchen. Dass ein Ort „judenfrei“ war oder ein Hotel, durfte mit Stolz vermerkt werden. Überall in der Bevölkerung, quer durch alle Schichten, war der Antisemitismus verbreitet. Diese Verankerung in der Gesellschaft war eine der Voraussetzungen für den Genozid an den Juden. Die Verantwortung lag eben nicht nur bei einigen Wenigen.

Warum ist es so wichtig, diese historischen Tatsachen auch heute noch zu vermitteln? Das ist wichtig, weil politische Propaganda nach wie vor nach den gleichen Mechanismen funktioniert. Und es ist wichtig, damit sich heute alle mündigen Bürger dafür verantwortlich fühlen, was in ihrem Staat passiert. Damit gefährliche gesellschaftliche Entwicklungen nicht einfach passiv hingenommen werden. Die Anzeichen für eine Gefährdung oder Aushöhlung der Demokratie müssen frühzeitig erkannt werden!

Heutzutage sind wir alle massiver politischer Beeinflussung ausgesetzt. Und derzeit gehören die rechtsextremen und rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien leider zu jenen Gruppen, die besonders erfolgreich ihre Botschaften verbreiten.

Das spiegelt sich auch in Aufklebern wider. Und die lesen sich dann so: „Überfremdung ist auch eine Form von Völkermord.“ Oder „Ausländer rein? Wir sagen Nein.“ Oder „Bitte flüchten Sie weiter. Es gibt hier nichts zu wohnen. Refugees not welcome“.

Man könnte diese Parolen achselzuckend als Geschwätz einer kleinen Minderheit abtun. Hat es schließlich auch in der Bundesrepublik immer gegeben. Mal ging es gegen die Kapitalisten, mal gegen die Linken, mal gegen Ausländer.

Unsere Demokratie haben diese Sprüche nicht aus den Angeln gehoben. Ich bin überzeugt: Das werden sie auch heute nicht. Aber ebenso bin ich überzeugt: Wir dürfen sie nicht stillschweigend hinnehmen!

Denn unsere Gesellschaft befindet sich nicht gerade in einem demokratischen Idealzustand. Zumindest eine große Verunsicherung ist in weiten Teilen der Bevölkerung zu spüren, um es vorsichtig auszudrücken. Und in dieser Verunsicherung fallen dumme ausländerfeindliche oder antisemitische oder Islam-feindliche Sprüche auf fruchtbaren Boden.

Wenn Menschen sich – und sei es aus völlig irrationalen Gründen – in ihrem Wohlstand bedroht fühlen, wenn sie Angst vor Veränderungen haben, wenn sie das Gefühl haben, abgehängt zu werden – dann sind sie schnell dabei, einen Sündenbock zu suchen. Das Phänomen ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Die Folgen kennen wir.

Und wenn ich die Propaganda aus der ganz rechten Ecke höre und dann die Bilder sehe von brennenden Asylbewerberheimen oder zerborstenen Fensterscheiben in Asylunterkünften, Bilder von einer Meute grölender Menschen vor einem Bus mit Flüchtlingen, Bilder von selbstgebauten Galgen für unsere Politiker, dann wird mir nicht nur mulmig zumute, dann bekomme ich heftige Bauchschmerzen. Und dann mag ich einen Aufkleber mit einem Spruch wie „Überfremdung ist eine Form von Völkermord“ nicht als Geschwätz von ein paar geistig Verwirrten abtun.

Doch was dagegen tun?

Hilft ein Blick in die Geschichte? Wer wehrte sich damals gegen den grassierenden Antisemitismus? Es waren die Betroffenen selbst. Die Vorläufer-Organisation des Zentralrats der Juden, der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, verbreitete ab 1930 eigene Aufkleber, etwa mit dem Slogan „War je ein großer Geist Antisemit?“

Und was passiert heute? Im Jahr 2014 waren bei Demonstrationen gegen Israel auf deutschen Straßen antisemitische Parolen zu hören, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen.Der Springer-Verlag startete eine große Kampagne gegen Judenhass. Zu einer Kundgebung riefen schließlich wir selbst auf, der Zentralrat der Juden in Deutschland. „Steh Auf! Nie wieder Judenhass!“ lautete das Motto. Das druckten wir auch auf Aufkleber!

Und wer stellt sich im Jahr 2016 gegen die Hassparolen gegen Flüchtlinge und gegen Muslime? Müssen wir uns das nicht selbstkritisch fragen? Kann es richtig sein, dass sich die Betroffenen immer selbst zur Wehr setzen müssen?

Es müssen ja nicht Aufkleber sein. Die darf man, wenn ich richtig informiert bin, ohnehin nicht einfach frank und frei auf Stromkästen und Laternenmasten kleben. Aber unsere Stimme erheben für eine solidarische Gesellschaft, für die Menschenwürde und gegen den Hass und die Verachtung, die rechte Parteien verbreiten, das ist nicht nur erlaubt, das ist geboten, heute mehr denn je!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

das Internet bietet viele Möglichkeiten. Die Digitalisierung ermöglicht es auch dem Laien, Aufkleber selbst zu drucken. Wenn man also spaßeshalber mal googelt: „Aufkleber selber gestalten“, dann erhält man 125.000 Treffer. Ich gehe daher fest davon aus, dass auch in 100 Jahren noch eine Ausstellung mit politischen Aufklebern ein treffendes Abbild unserer Gesellschaft liefern wird. Und ich hoffe, dass es das Bild einer demokratischen und toleranten Gesellschaft sein wird!

Ich danke Ihnen!

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