"Man muss die Demokratie auch zubeißen lassen"



Stephan J. Kramer über eskalierenden Rechtsradikalismus, die falsche Gleichsetzung von Links und Rechts und die Versäumnisse der Politik
Interview, Neues Deutschland, 15.02.2012

Gegendemonstranten werden von der Justiz kriminalisiert. Abgeordneten wurde die Immunität entzogen, weil sie blockiert haben sollen. Was stimmt nicht in diesem Land?

Unser Verfassungsgericht hat friedliche Blockaden unter den Schutz des Grundgesetzes gestellt. In Sachsen ist man zu sehr damit beschäftigt, friedliche Demonstranten zu kriminalisieren, anstatt den Nazis das Leben schwer zu machen. Unsere Gesetze geben dieser Demokratie Zähne: Stichwort wehrhafte Demokratie. Nur: Man muss sie dann auch zubeißen lassen dürfen. Im Moment sehe ich eine immer weiter eskalierende Bedrohung von Rechts. Wir haben uns seit Jahrzehnten den Mund fusselig geredet, wie weitreichend mittlerweile die rechtsextremistische Szene ist. Ich frage mich, wann die Politik mal darüber versucht zu diskutieren, was sie selber unterlassen hat und falsch gemacht hat in den letzten 20 Jahren.

Was halten Sie davon, wenn Bundesminister fortwährend Linke mit mordenden Neonazis vergleichen?

Nicht jeder, der eine andere politische Ansicht als Herr Friedrich oder Frau Schröder hat, ist gleich ein Linksextremer bzw. ein Gewalttäter. Wir müssen die Kirche im Dorf lassen, wenn diese beiden Dinge miteinander in der Form verglichen werden, dass sie gleichgesetzt werden. Wenn das passiert, muss man sich allen Ernstes fragen, wie sehr diejenigen, die diese Gleichsetzung vornehmen, wirklich mit beiden Füßen im Leben stehen. Das entbehrt jeder Grundlage, wenn ich mir anschaue, was wir in den letzten Wochen und Monaten erlebt haben. Beides gleichzusetzen, ist eine absolute Verkennung der Realität. Es zeigt, dass hier nicht der ernsthafte Versuch unternommen wird, rechtswidriges und gewalttätiges Handeln zu bekämpfen. Hier wird ein kleinkarierter politischer Grabenkampf geführt, der eigentlich ideologisch motiviert ist.

Jeder fünfte Jugendliche in Deutschland heute weiß nicht, was Auschwitz ist. Wie ist das zu erklären?

Die Kenntnisse schwinden. Daran ändert leider auch das Internet nichts, das uns vorgaukelt, wir wüssten viel mehr als vorher. Das ist besorgniserregend. Was den Holocaust angeht, muss Geschichte immer wieder neu gelernt werden. Der Staffelstab muss von jeder Generation zur nächsten übergeben werden. Dabei geht es um Verantwortung und nicht um Schuld. Es wird immer wieder aufs Neue eine Herausforderung sein, wie wir nicht nur das Faktenwissen vermitteln. Wichtiger scheint mir die Frage: Wie sollte ich mich als Bürger verhalten, damit eine freie demokratische Gesellschaftsordnung gelebt werden kann. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir da momentan besonders gut aufgestellt wären.

Kürzlich wurde nachgewiesen, dass hierzulande der Antisemitismus bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein verbreitet ist.

Ich will nicht verhehlen, dass die Situation in der Bundesrepublik alles andere als erfreulich ist. Wenn man sich überlegt, was die BRD seit ihrem Bestehen investiert hat in die sogenannte "Geschichtsaufarbeitung", muss man sich schon fragen, warum bei all den Anstrengungen, die unternommen wurden, nicht mehr erreicht wurde als in anderen europäischen Ländern. Und das noch in dem Land, wo der Holocaust erfunden und "erfolgreich" exekutiert worden ist. Die Frage ist: Wie geht man in Zukunft damit um, dass es keine Überlebenden mehr geben wird, die ihre Geschichten vortragen können? Ich mache mir Sorgen darum, dass wir uns keine Gedanken darum machen, wie wir in Zukunft Gedenktage durchführen wollen, um nicht nur den Intellekt, sondern auch die Herzen der Menschen zu erreichen.

Warum müssen immer Migrantenorganisationen, antifaschistische Initiativen oder der Zentralrat sich einmischen gegen Rechts? Warum kommt so wenig aus der Mitte der Bevölkerung?

Mich beschleicht der Eindruck, als wenn die, die den Stein ins Rollen bringen, in der Tat die Minderheitenorganisationen sind. Mittlerweile zähle ich auch die Kirchen zu den Minderheitenorganisationen in unserem Land, die noch daran erinnern, was eigentlich Bürgerpflichten in unserem Land sind. Dennoch: Dresden und seine Bürgerinnen und Bürger haben gezeigt, dass sie sich erfolgreich zur Wehr setzen können.


Stephan J. Kramer ist seit 2004 Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Vorgestern beteiligte er sich an den Dresdner Protesten gegen Neonazis. Bereits vor Kurzem monierte er, dass "symbolische Menschenketten" nicht ausreichen, und sprach sich für "friedliche Blockaden" gegen Neonazis aus. Über die Schwierigkeiten eines künftigen Holocaust-Gedenkens sprach mit ihm für "nd" Thomas Blum.

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