Rede von Prof. Dr. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrates der Juden und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, anlässlich der Gedenkstunde zur Reichspogromnacht am 9. November 2010 in der Frankfurter Westend-Synagoge



Am 9. November letzten Jahres hatte ich an dieser Stelle geschildert, wie ich nach dem Tod meiner Mutter frühmorgens in die Synagoge gehe und dort das Kaddisch der Trauernden sage. Im Januar, nur wenig mehr als ein Jahr danach, verstarb mein Vater. Seither gehe ich wieder frühmorgens zur Synagoge, jetzt, um dort Kaddisch für meinen Vater zu sagen. Um diese Zeit, so meine bereits vor Jahresfrist gemachte Erfahrung, sind die Straßen menschenleer und es herrscht noch morgendliche Stille – ideale Voraussetzungen für genaues Beobachten. War es nach dem Tod meiner Mutter die äußere Welt, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog, so ist es jetzt zunehmend meine Innenwelt. Nicht nur die Straßen sind menschenleer: Leere spüre ich auch im Innersten. Die schützende Palisade, die die Eltern zwischen Gegenwart und eigenem Tod bilden, ist durchbrochen, der Blick in die Endlichkeit des eigenen Daseins nunmehr unverstellt.

Gewissheit wird mir jetzt jene jüdische Weisheit, die besagt, dass wir mit dem Tod der Mutter den Boden unter den Füßen verlieren, mit dem Tod des Vaters das schützende Dach über dem Kopf. Damit ist zutreffend jener Zustand beschrieben, der mich auf meinem allmorgendlichen Gang zur Synagoge erfasst. Und dann schweifen meine Gedanken zu jenen Kindern und Jugendlichen hin, die ihre Eltern vorzeitig verloren haben, nicht durch Krankheit, Unfall oder hohes Alter, sondern durch gewaltsamen Tod, durch systematischen Mord – so geschehen am 9. November 1938 im Herzen Europas, in einem zivilisierten Land, in Deutschland.

Ein einzigartiges Datum in der deutschen Geschichte: am 9. November 1938 erfolgte eine Form von Hochverrat, wie es ihn in Deutschland zuvor noch nie gegeben hatte. Nicht eine Einzelperson verriet seinen Staat oder seine Regierung, nein, umgekehrt: Ein Staat verriet seine Bürger. Ohne gesetzliche Grundlagen ließ er Massenzerstörungen zu und beobachtete teilnahmslos, wie über 1400 jüdische Gotteshäuser angezündet, abgerissen, Deutsche jüdischen Glaubens ausgeplündert, erniedrigt und in Konzentrationslager deportiert wurden. Die „Reichskristallnacht" ist vermutlich das größte staatlich organisierte Pogrom in der Geschichte der Menschheit.

Hugo Moses, 1894 im Rheinland geboren, 1939 in die USA emigriert, schreibt in seinen Erinnerungen an jene Zeit: „Anfang März 1938 wurden allen Juden in Deutschland die Pässe abgenommen. Am 27. April 1938 hatten wir Juden in Deutschland mit einem Vermögen von über 5000 Mark eine Aufstellung unserer Besitztümer an barem Geld, Häusern, Schmuck usw. zu machen.

Mitte Oktober 1938 traf ich mit einem Herrn aus Berlin zusammen, mit dem ich geschäftlich viel zu tun hatte und von dem ich wusste, dass er sehr gute Verbindungen bis in die höchsten Stellen der Partei und der Regierung hatte. An diesem Abend sagte er wörtlich zu mir: ‚Wenn Sie wüssten, was Ihnen bevorsteht und wenn Sie es Ihrer Familie und Ihrer Firma gegenüber verantworten können, gehen Sie so schnell wie möglich aus Deutschland heraus. Wenn nicht mit Pass, dann versuchen Sie, sich irgendwo über die Grenze zu schmuggeln. In Berlin werden große und grauenhafte Dinge gegen die Juden vorbereitet'. Als ich ihm erklärte, dass ich für eine Auswanderung noch nichts getan habe und dass ich meine Familie keineswegs im Stich lasse, war der Herr sehr erstaunt und sagte: ‚Bald wird kein Jude mehr da sein, der auswandern möchte oder wollte'.

Als ich ihn fragte, was denn nun eigentlich wieder gespielt würde und er mein erschrecktes Gesicht sah, sagte er mir: ‚Geben Sie mir Ihr Wort, keinem etwas zu sagen, es könnte mein Tod sein. Die Juden sollen in Kürze eine riesige Vermögensabgabe leisten, sie sollen in Ghettos untergebracht werden, und die Juden bis zu 60 Jahren sollen zur Zwangsarbeit in Konzentrationslager gebracht werden. Überall werden zu diesem Zweck schon Baracken gebaut. Außerdem sollen alle Synagogen geschlossen werden'. Ich erkläre ausdrücklich, dass mir diese Nachricht gegen Mitte Oktober 1938 gegeben wurde, das Attentat auf den Herrn vom Rath, das als Anlass der Judenpogrome im November 1938 von der deutschen Regierung propagiert wurde, geschah erst in den ersten Novembertagen 1938. Ich war sehr deprimiert und konnte diese Stimmung zu Hause nicht verbergen."

Hugo Moses hat seine Erinnerungen 1940 im amerikanischen Exil niedergeschrieben. Aus ihnen sprechen Zorn, Enttäuschung und Unfassbarkeit über das Erlebte, so unmittelbar, als seien ihm die geschilderten Ereignisse soeben erst widerfahren. In der Nacht vom 9. auf den 10. November läutet um drei Uhr früh in seiner Wohnung zweimal anhaltend die Klingel. Er geht im Schlafanzug zur Haustür und öffnet. Eine Wolke von Alkohol schlägt ihm entgegen, und eine Horde Männer drängt ins Haus. Hugo Moses erinnert sich: „Ein Führer ging an mir vorbei und riss mit einem Ruck das Telefon herunter. Ein Führer der schwarzen SS, grün im Gesicht vor Trunkenheit, hielt mir seinen Revolver, den er vor meinen Augen entsicherte, an die Stirn und lallte: ‚Weißt du Schwein, weshalb wir kommen?' Ich antwortete: ‚Nein', und er fuhr fort: ‚Wegen der Schweinerei in Paris, an der du auch schuldig bist. Falls du auch nur den Versuch machst, dich zu rühren, schieße ich dich ab, wie eine Sau'. Ich schwieg und stand, die Hände auf dem Rücken, in der eiskalten Luft in der offenen Tür. Ein Mann der SA, der wohl ein bisschen menschliches Gefühl hatte, flüsterte mir zu: ‚Stillstehen, nicht rühren'. Während der ganzen Zeit und noch weitere zwanzig Minuten fuchtelte der betrunkene SS-Führer bedrohlich mit seinem Revolver an meiner Stirn herum. Eine Bewegung von mir oder eine ungeschickte Bewegung seinerseits und mein Leben war vorüber. Und wenn ich hundert Jahre alt werde, nie würde ich dieses vertierte Gesicht vergessen und diese schrecklichen Minuten.

In der Zwischenzeit waren etwa zehn Uniformierte in meine Wohnung eingedrungen. Ich hörte meine Frau rufen: ‚Was wollen Sie bei meinen Kindern? Der Weg zu meinen Kindern führt nur über meine Leiche!' Dann hörte ich nur noch das Krachen von umstürzenden Möbeln, splitterndes Glas und das Trampeln von schweren Stiefeln. Noch nach Wochen wachte ich aus ruhelosem Schlummer auf, und stets wieder hörte ich dieses Krachen, Hämmern und Schlagen. Nie werden wir diese Nacht vergessen können. Nach etwa einer halben Stunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, verließen die vertierten betrunkenen Gestalten laut grölend die Wohnung. Der Anführer pfiff auf einer Pfeife und schoss, als seine Untergebenen an ihm vorbeitorkelten, seinen Revolver hart an meinem Kopf vorbei, zweimal in die Decke. Ich glaubte, mir sei das Trommelfell geplatzt, trotzdem stand ich wie eine Mauer. Der letzte SA-Mann, der das Haus verließ, schlug mir mit einem Spazierstock, mit dem er meine Bilder demoliert hatte, derartig über den Kopf, dass die Schwellung noch vierzehn Tage später fühlbar war. Beim Herausgehen rief er mir zu: ‚So, du Judensau, und nun viel Vergnügen'.

Meine arme Frau und die vor Angst bebenden Kinder saßen weinend auf dem Boden. Stühle und Betten besaßen wir nicht mehr. Zum Glück stand der brennende Ofen unversehrt – unser Haus wäre sonst, wie viele andere, in Flammen aufgegangen."

In der Nacht vom 10. auf den 11. November erscheint ein Polizeibeamter und verhaftet Hugo Moses. Der Transport ins Gefängnis erfolgt in bitterster Kälte im offenen Auto. Mit 60 weiteren jüdischen Männern wird er in eine Zelle gesperrt. Das harte Lager macht es unmöglich, sich zu entspannen und zu schlafen; die Notdurft muss vor allen Zelleninsassen in einem Blecheimer verrichtet werden.

Mittwoch, den 16. November 1938: um 6 Uhr wird die Zellentür geöffnet. Alle Juden, deren Namen verlesen werden, treten auf dem dunklen Gefängnishof an. In Hugo Moses Aufzeichnungen heißt es dazu: „Wie ein Blitzstrahl kommt uns in diesem Moment die Erkenntnis: Da gehen sie hin in die Konzentrationslager, in die Hölle, wo es kein Entrinnen gibt. Da gibt es nur Arbeit und Hunger, nur Krankheit und Sadismus der Wachmannschaften, da gibt es nur TOD, TOD, TOD …

Unter unserem Zellenfenster werden die dem Tode Geweihten den Polizeibeamten übergeben, noch einmal werden die Namen verlesen, dann folgt ein Kommando, das ich bis an mein Lebensende hören werde: ‚Die Wachmannschaften nach außen, die Juden in die Mitte. Ohne Tritt marsch!' Tränen liefen über unsere Gesichter, wir haben sie nicht abgewischt, lebt wohl, ihr Brüder, lebt wohl, ihr Freunde, Gott sei bei euch, ihr jüdischen Männer, Gott schütze eure Frauen, eure Kinder, eure Mütter, eure Bräute, eure Großeltern. Lebt wohl! Langsam verhallten die Schritte in der Dämmerung eines grauen Nebelmorgens, noch einmal der Ruf eines Polizeibeamten, und in der Ferne schon gehen sie. Langsam schließen sich die Gefängnistore wieder …"

Am Samstag, den 19. November 1938 wird Hugo Moses, vermutlich auf Betreiben eines einflussreichen arischen Bekannten, überraschenderweise entlassen. Auf der Eisenbahnfahrt nach Hause stellt er fest, dass die Ereignisse der „Reichspogromnacht" die Gemüter immer noch lebhaft erregen. Im Eisenbahnabteil spricht ein Mann darüber mit seinem Nachbarn: „Nie habe ich so gelacht, als in der Nacht damals die Juden um ihre Häuser tanzten. Zum ersten Mal habe ich die jüdischen Huren arbeiten sehen, als sie mit ihren feinen Fingern die Fensterscheiben auf der Straße auflesen mussten. Die haben geblutet wie die Schweine." Der zweite Mann antwortet: „Das Schönste war, als am nächsten Morgen die Schulkinder von den Lehrern in die Judentempel und die Wohnungen der Juden geführt wurden. Wie haben die noch einmal aufgeräumt. Die haben gezeigt, dass unser Führer sich auf seine Jungen verlassen kann."

An dieser Stelle des Gespräches steigen die Männer aus dem Zug. Hugo Moses treten die Tränen in die Augen. Auf den Tag genau war er vor zwanzig Jahren aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Er erinnert sich, wie er damals, innerlich zerbrochen, über das Schicksal des deutschen Volkes, über die Niederlage des deutschen Heeres trauerte. Und heute kehrt er, aus der Gefängnishaft entlassen, heim, erneut, wie vor zwanzig Jahren, das Herz voll Trauer und Verzweiflung, voller Sorge um seine Familie und deren Zukunft.

Er fühlt in diesem Augenblick, dass nunmehr alles verloren ist, dass es nach diesen Vorkommnissen kein Verbleiben mehr in Deutschland gibt und es nun gilt, das Schicksal der Erzväter teilen zu müssen: den Stab ergreifen und wandern, wandern, wandern … In seinen Aufzeichnungen ist zu lesen: „Als ich nach der Pogromnacht im November im Gefängnis saß, kabelte meine Frau an ihren alten amerikanischen Onkel wegen eines Affidavits. Ich muss der Wahrheit gemäß gestehen, dass mir bis dahin ein Weggehen aus der alten Heimat, aus dem Elternhaus, das meine Jugendträume bewacht hat und in dem meine zwei Kinder groß geworden waren, sehr schwer geworden wäre.

Als ich in der kalten Schreckensnacht im Schlafanzug mit dem Revolver des betrunkenen Verbrechers vor der Stirn stand, während betrunkene Vandalen in ihrer braunen und schwarzen Uniform meine Wohnung verwüsteten, da war mein Entschluss gefasst. Heraus aus diesem Lande der Schmach und Schande, in dem Menschen, die nie in ihrem Leben etwas Böses taten, nicht mehr leben und atmen können, nur weil sie als Juden geboren sind. Wo die jüdischen Kinder von ihren Altersgenossen geschlagen, beschimpft und mit Steinen beworfen werden, weil sie jüdische Kinder sind. Das Gift der Verhetzung, als furchtbare Saat in die Herzen und in die Seelen der Kinder geworfen, muss eine hundertfache grauenhafte Ernte tragen, die sich letzten Endes gegen die wenden muss, die dieses Gift ausstreuten. In diesem Lande kann keine Stätte mehr sein für die Angehörigen eines Volkes, dessen erster und vornehmster Glaubenssatz ist: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst."

Als Hugo Moses und die Seinen nach Stuttgart zum amerikanischen Konsulat fahren, um dort Visa zu beantragen, finden sie in der Stadt keine Pension und kein Hotel, an dem nicht steht: „Juden sind hier unerwünscht." Am nächsten Tag erhalten sie ihre Visa, und es gab, so in Hugo Moses Erinnerungen, „in der ganzen großen Stadt keine glücklicheren Menschen." Und er fährt fort: „Die letzten Tage in Deutschland benutzte ich dazu, Abschied von der alten Heimat zu nehmen. Mit meinen Kindern ging ich noch einmal durch den Frühling die alten vertrauten Wege, die ich in vier Jahrzehnten so manches Mal gegangen war. Die Wege durch die Wälder und Felder, die ich zum ersten Male an der Hand meiner Eltern gegangen war, jeder Baum und jedes Haus eine Stätte der Erinnerung. Nie mehr in meinem Leben sollte ich diese Wege gehen, gewaltsam aus dem Herzen sollten wir uns die Erinnerung an fast ein halbes Jahrhundert erlebtes Leben reißen.

Noch einmal zum Friedhof, auf dem vier Generationen meiner Ahnen ruhen. Die Grabsteine, einige Male von der Hitler-Jugend umgeworfen, stehen notdürftig zum vierten Male aufgerichtet. So ruhet in Frieden, geliebte Eltern, euer Segen begleite uns Wandernde. Wo wir auch weilen, in Gedanken werden wir stets bei euch, werdet ihr stets bei uns sein. Wir verlassen eure Gräber ja nicht freiwillig, wir sind ja Vertriebene. So geben wir eure letzte Ruhestätte in die Hand unseres Gottes. Noch ein letzter Blick zurück, vorbei, vorüber auch das.

Zwei arische Freunde begleiteten uns zum Bahnhof. Der eine von ihnen sagte tränenden Auges auf dem Bahnsteig: ‚Hier werden wir euch wieder im Triumph abholen'. Tränen liefen ihnen über das Gesicht, als der Zug abfuhr, noch lange sahen wir sie mit ihren Taschentüchern winken. Deutschland lag hinter uns.

Doch nein, es kam noch die Grenze. Eine halbe Stunde vor der Grenze öffnete sich die Tür des Abteils, und ein schwarzer SS-Mann brüllte: ‚Sind hier Juden drin?' Ich meldete mich, und nun folgte ein hochnotpeinliches Verhör über das Ziel der Reise. Wörtlich sagte der Uniformierte unter anderem: ‚Wenn ihr Schweine nur alle schon 1932 aus Deutschland verschwunden wäret'. Das war unser letzter Abschied von Deutschland, das waren die letzten Worte eines Deutschen, die wir hörten."

Auf einem holländischen Schiff treten Hugo Moses und seine Familie die Reise nach New York an. Er notiert in seinen Aufzeichnungen: „Am übernächsten Tage ein letzter Blick auf die englische Küste im strahlenden Sonnenschein. Fahre wohl Europa, adieu alte Welt …

An einem sonnigen Sommermorgen passierten wir die Freiheitsstatue im New Yorker Hafen. Wir hatten heimgefunden ins Land der Menschlichkeit, ins Land der Freiheit. Wie ein schwerer Traum lag die Zeit der Knechtung und der Entrechtung hinter uns. Wir fühlten, dieses Land, das uns mit offenen Armen aufnahm, soll und muss für uns arme Flüchtlinge eine neue Heimat werden. Wir wollen alles tun, um gute und geachtete Mitbürger zu werden, wir wollen und müssen alles Schwere hinter uns vergessen."

Hugo Moses Schicksal und Leidensweg steht beispielhaft für einen Großteil jener 280.000 deutschen Juden, die nach 1933 ins Exil gehen mussten. Liest man seine bewegenden Aufzeichnungen von Anfang bis Ende, dann fühlt man deutlich die enttäuschte Liebe eines jüdischen Deutschen zu seinem Vaterland. Wie 96.000 andere jüdische Soldaten, von denen 12.000 gefallen waren, hatte er im Ersten Weltkrieg mit Begeisterung für Deutschland gekämpft, in der Überzeugung, einer gerechten Sache zu dienen. Mit dem Dienst in der deutschen Armee, so sein fester Glaube, sei das Ziel der Emanzipation erreicht. Das bedingungslose Eintreten für Volk und Vaterland wurde von ihm wie von der großen Mehrheit der deutschen Juden als endgültiger Vollzug der Integration empfunden. Der Militärdienst war für sie gleichbedeutend mit dem Zugang zur Staatsbürgerschaft. Die Beteiligung am Kriegsdienst, der Kampf an vorderster Front, schien der Durchbruch zur staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichberechtigung zu sein.

Doch Patriotismus und Einsatz waren vergeblich: Sogenannte „Judenzählungen" in der Armee, diskriminierende Nachmusterungen, Ablehnung von Beförderungen und schließlich die „Dolchstoßlegende", die den deutschen Juden die Schuld an Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg zuwies, zerstörten diese Illusion. Diejenigen, die trotz allem ihrem deutschen Vaterland bedingungslos dienen wollten, mussten erfahren, dass Reichswehr, Stahlhelm und Wehrmacht zutiefst antisemitisch eingestellt waren und auf Dauer keine Juden als deutsche Soldaten in ihren Reihen duldeten. Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 endete für die deutschen jüdischen Soldaten, ja, für die deutschen Juden in ihrer Gesamtheit eine 120 Jahre alte Geschichte der Hoffnungen und Enttäuschungen, und der Weg in die Katastrophe, in das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen begann.

Am 7. August 1939, neun Monate nach den Novemberpogromen, berichtete die New York Times unter der Überschrift „Prize for Nazi Stories", Wissenschaftler der Universität Harvard seien auf der Suche nach Augenzeugenberichten über das Leben in Deutschland vor und nach 1933 und hätten zu diesem Zweck einen Wettbewerb ausgeschrieben. Das Preisgeld betrage insgesamt 1000 Dollar, zur Teilnahme berechtigt sei jeder, der aufgrund eigener Erfahrungen berichten könne, wie sich der Alltag seit dem Machtantritt Hitlers verändert habe.

Mehr als 250 Manuskripte aus aller Welt gingen in Cambridge ein. Alle Berichte stimmten darin überein, dass die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ungehemmt sich austobende Brutalität des Nationalsozialismus den größten Zivilisationsbruch der abendländischen Geschichte darstelle und es für einen deutschen Juden schlicht undenkbar sei, je wieder in diesem Land zu leben.

Das zum Druck vorgesehene Manuskript der eingesandten Augenzeugenberichte trug den Arbeitstitel „Nazi Madness: November 1938". Bedingt durch die Wirren des Krieges und der Nachkriegszeit, lag dieses Manuskript ein halbes Jahrhundert lang unbeachtet in einem Pappkarton, der im Laufe der Zeit immer staubiger wurde und eines Tages in Berkeley landete. Im Sommer 2008 wurde er zufällig entdeckt, das Manuskript, darunter Hugo Moses Niederschrift, danach zur Veröffentlichung vorbereitet. Dichte und Authentizität der Erinnerungen machen diese Aufzeichnungen zu zeitgeschichtlichen Dokumenten von hohem Rang.

Wie in Hugo Moses Bericht zu lesen, liegt auch allen anderen Berichten die Gewissheit zugrunde, dass das jüdische Leben in Deutschland mit dem 9. November 1938 sein Ende gefunden hatte. Wie wir heute wissen, war dieser Tag eine Art Vorspiel für die drei Jahre später einsetzende millionenfache Vernichtung der Juden in allen von Deutschen besetzten Teilen Europas. Die zum Teil erschütternden Berichte dokumentieren gewissermaßen das Ende vor dem Ende – und halten für uns Nachgeborene das Rad der Geschichte einen Augenblick lang an.

Es gilt das gesprochene Wort

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