Was ist die größte Angst der Deutschen?



Vortrag des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, unter dem Titel „Angst überwinden – Brücken bauen“, Jahresempfang der GCJZ Bonn, 15.3.2018

Anrede,

Was ist die größte Angst der Deutschen?

Rein statistisch betrachtet müsste dies die Angst vor Krankheit oder einem Verkehrsunfall sein. Auch Angst vor Altersarmut wäre in vielen Fällen begründet. Nach einer Umfrage der R+V-Versicherung, die seit Jahren die Ängste der Deutschen abfragt, gaben im vergangenen Jahr jedoch die meisten Befragten an, nämlich 70 Prozent, am meisten Angst hätten sie vor Terrorismus.

Damit macht die Studie eines ganz deutlich: Angst ist etwas Irrationales. Angst ist ein diffuses Gefühl. Angst entwickelt sich losgelöst von objektiven Gegebenheiten.

Deshalb gibt es zum Beispiel Flug-Angst. Aber es gibt keine Autofahr-Angst. Dabei müsste – statistisch gesehen - ein Passagier über 6.500 Jahre lang jeden Tag fliegen, bis er bei einem Flugzeugunglück ums Leben käme. Aber bei Verkehrsunfällen sterben jährlich in Deutschland rund 3.000 Menschen.

Interessant ist noch ein zweiter Aspekt: Wenn man die Ängste der Deutschen zusammenfasst und quasi fragt, wie groß ist die Angst generell, dann ist das Ergebnis seit 20 Jahren fast konstant. Es gibt Ausschläge nach oben, aber 2017 lag wieder im langjährigen Mittel.

Dennoch war gerade im Jahr der Bundestagswahl sehr viel von Ängsten in der Bevölkerung die Rede. In den Erklärungsversuchen für den Erfolg der AfD spielt das Thema Angst eine zentrale Rolle. Manchmal wird es mit dem Begriff „Verunsicherung“ euphemistisch umschrieben. Gemeint ist aber letztlich die klassische Angst.

Und so hat der Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in diesem Jahr für die Woche der Brüderlichkeit ein sehr aktuelles Thema ausgewählt. Und ich danke der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Bonn für die Einladung, über dieses Thema heute zu sprechen:

„Angst überwinden – Brücken bauen“.

Es ist offensichtlich: Das muss unser Ziel sein. Es gilt, Ängste zu überwinden und Brücken zu bauen.

Doch wie wollen wir das erreichen?

Ich bin weder Rabbiner noch Philosoph, aber ich will versuchen, ein paar Möglichkeiten aufzuzeigen, um Brücken zu bauen, die die Ängste zumindest verkleinern können.

Es gibt einige sehr beunruhigende Entwicklungen weltweit und auch bei uns in Deutschland. Ihren Nährboden finden sie vor allem bei verängstigten Bürgern.

Wenn wir diesen Entwicklungen Einhalt gebieten wollen, brauchen wir sehr tragfähige Brücken. Keine schwankenden, schmalen Hängebrücken wie im Amzonas-Regenwald, sondern Brücken, denen wir vertrauen, die uns beim Überqueren ein Geländer bieten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

lassen Sie mich die eingangs erwähnte Umfrage über die Ängste der Deutschen noch einmal aufgreifen: 70 Prozent der Befragten haben Angst vor Terrorismus genannt.

Daher möchte ich auf dieses Thema als erstes eingehen.

Die Anschläge in Paris, in Brüssel, in Nizza und 2016 auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin haben Wirkung gezeigt. Es fällt nicht leicht, das auszusprechen, weil es die Terroristen freuen wird. Aber es ist so.

Es ist ein diffuses Bedrohungsgefühl entstanden. Bislang hat es jedoch nicht dazu geführt, dass die Menschen keine Weihnachtsmärkte mehr besuchen, Kaufhäuser meiden oder ihre Lebensweise verändert haben. Von ihrem wichtigsten Ziel, der Zerstörung der westlichen Zivilisation, sind Terrorgruppen wie der IS also noch weit entfernt.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen kurzen Exkurs nach Israel: In Israel sind die Menschen seit Jahrzehnten brutalen Terroranschlägen ausgesetzt. Inzwischen sind wir leider so weit, dass dortige Anschläge hier in Europa nur noch wahrgenommen werden, wenn sie zahlreiche Opfer gefordert haben. Messerattacken auf einzelne israelische Soldaten sind kaum noch eine Meldung wert. Berichtet wird jedoch mit überkritischem Unterton über die israelische Gegenwehr.

Es ist hier in Deutschland leider sehr wenigen Menschen bekannt, dass es in Israel normal ist, eine Gasmaske zu besitzen, dass die Bürger wissen, wo sich der nächste Schutzraum befindet, dass Schüler Übungen machen, wie sie sich im Fall eines Raketenangriffs richtig verhalten.

Die Israelis sind dennoch weder völlig verängstigt noch hysterisch. Aber sie erwarten vom Staat effiziente Schutzmaßnahmen und sind bereit, zur Verteidigung des Landes zur Verfügung zu stehen.

In vielerlei Hinsicht, meine Damen und Herren, sollten wir uns Israel zum Vorbild nehmen. Und nicht leichtfertig und abwertend über dieses Land urteilen. Was wäre eigentlich bei uns los, wenn regelmäßig Raketen auf einzelne Landesteile abgefeuert würden? Wenn sich in einem unserer Nachbarländer eine terroristische Gruppe etabliert hätte, die die Vernichtung Deutschlands zum Ziel hat und regelmäßig Attentäter nach Deutschland schickt, die dann im Heimatland als Helden gefeiert werden?

Wie würden wir dann über Angst diskutieren? Welche Parteien würden dann bei uns Mehrheiten gewinnen?

Die islamistischen Terroristen haben es, wie gesagt, zum Glück nicht erreicht, dass wir unsere Lebensweise geändert haben.

In einem Punkt aber waren sie leider erfolgreich:

Sie bringen ihre eigene Religionsgemeinschaft, ja den Islam als Ganzes zunehmend in Misskredit. Die Ressentiments gegen Muslime wachsen. In den USA drückt sich dies gerade durch Einreiseverbote aus. In Deutschland durch verbale und direkte Attacken auf Flüchtlinge. Im vergangenen Jahr gab es mehr als 2.200 Angriffe auf Flüchtlinge oder ihre Unterkünfte. Dabei wurden 300 Menschen verletzt (laut Bundesinnenministerium).

Die diffuse Angst vor islamistischen Terroristen mündet in eine fatale Abwehr einer ganzen Bevölkerungsgruppe in unserem Land.

Der enorme Zuzug von Flüchtlingen, vor allem im Jahr 2015, hat diese Angst verstärkt. Es kamen nicht nur Menschen aus einem anderen Kulturkreis in sehr großer Zahl in unsere Städte und Gemeinden. Sondern vielfach wirkten die Behörden dabei völlig überfordert. Das hat zu einem Vertrauensverlust bei vielen Bürgern geführt.

Die AfD schürt dieses neu entstandene Misstrauen noch. Allein durch ihre Sprachwahl - indem sie etwa abfällig von „Alt-Parteien“ spricht – erweckt die AfD den Eindruck, die Politik sei den neuen Herausforderungen nicht mehr gewachsen.

Inzwischen wird im politischen Diskurs über die Fluchtursachen kaum noch gesprochen. Auch die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge heute bei uns leben, sind kein Thema. Es dominieren die von der AfD gesetzten Fragen: Wie lässt sich die Zahl der Flüchtlinge beschränken? Wie können möglichst viele wieder abgeschoben werden?

Ich bezweifele, dass politische Lösungen gefunden werden und Ängste in der Bevölkerung abgebaut werden können, wenn wir uns die Agenda von der AfD diktieren lassen.

Darüber hinaus, meine sehr geehrten Damen und Herren, entstehen ganz offensichtlich Ängste durch die Folgen der Globalisierung und der Digitalisierung. Der Durchschnitts-Deutsche beherrscht nicht mehrere Sprachen und wohnt nicht im Laufe seines Lebens in verschiedenen Ländern. Und das wollen wir auch wahrlich niemandem vorwerfen.

Beunruhigend ist in meinen Augen jedoch, dass sich so etwas wie eine Sehnsucht nach vermeintlich besseren Zeiten mit geordneten Verhältnissen breit macht. Leider versteht es auch hier die AfD perfekt, diese Sehnsucht zu bedienen.

Ich frage mich nur: Was wünschen sich die Menschen denn?

Ein Deutschland mit den alten Rollenverteilungen? Vati geht arbeiten, und Mutti kümmert sich um Kinder und Küche?

Ein Deutschland, in dem Menschen ihre Homosexualität verstecken müssen, weil sie sonst gesellschaftlich geächtet würden?

Nach meinem Eindruck hat sich bei einem nicht unerheblichen Teil unserer Bürger eine Haltung eingeschlichen, alle Änderungen abzuwehren und die Vorteile, die diese Änderungen mit sich bringen, nicht mehr wahrzunehmen.

Es ist daher ebenso wenig zufällig wie extrem beunruhigend oder sagen wir ruhig: beängstigend, dass die Zahl der Rechtsextremisten wächst. Die Identitäre Bewegung, die Reichsbürger – das sind alles rechtsextreme Gruppen, die Zulauf haben. Der Verfassungsschutz stellt fest, dass rechtsextremistisch motivierte Gewalt seit 2014 kontinuierlich zunimmt. Der NDR berichtete jüngst über so genannte „völkische Familien“ in Niedersachsen, die für Rechtsextreme einen Rückzugsraum bieten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

meine Eltern waren Überlebende der Schoa. Können Sie sich in etwa ausmalen, wie ich mich bei solchen Meldungen fühle?

Um es ganz deutlich zu sagen: Diese Entwicklung macht vielen Juden in Deutschland Angst!

Wir spüren einen Anstieg von Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Er kommt in verschiedenen Formen daher: Es ist der Antisemitismus von Rechtsaußen, der meistens die ganz alten Vorurteile gegen Juden wieder hervorholt.

Es ist der Antisemitismus von Muslimen, die die historischen Fakten nicht wahrhaben wollen oder bewusst verdrehen und ihren Hass auf Israel auf alle Juden übertragen.

Und es ist der Antisemitismus, der bis in die Mitte der Gesellschaft reicht, leider auch in kirchlichen Gruppen anzutreffen ist, und der unter dem Deckmantel der Kritik an Israel verbreitet wird.

Einhergehend mit einer verbalen Enthemmung im Internet bekommt der wachsende Antisemitismus tatsächlich beängstigende Züge.

Daher stellt sich auch ganz konkret in unserer Community die Frage, wie wir diese Angst überwinden.

Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren,

komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags - zu den tragfähigen Brücken, die wir brauchen.

Beim Brückenbau ist es nicht unwichtig, sich den Untergrund anzuschauen, in dem die Brückenpfeiler verankert werden sollen.

Der Untergrund, mit dem wir es zu tun haben, zeichnet sich häufig durch zwei Eigenschaften aus: mangelndes Wissen und ein fehlendes Wertegerüst.

Hier müssen wir also ansetzen, sonst werden unsere Brücken wackelige Angelegenheiten.

Als sehr kleine religiöse Minderheit in diesem Land sind wir es in der jüdischen Gemeinschaft gewohnt, dass die Mehrheit der Bevölkerung wenig über uns weiß. Über Jahrzehnte galt in Deutschland: Katholisch oder evangelisch ist allseits bekannt, alle anderen Religionen werden als fremd empfunden, und zwar ganz unabhängig davon, wie viele Jahrhunderte es sie in deutschen Landen schon gibt.

Umso überraschter war ich, als ich vor kurzem eher durch Zufall auf die neue Homepage der EKD stieß. Die Evangelische Kirche in Deutschland präsentiert sich im Internet in einem neuen Look. Der Zentralrat der Juden übrigens auch, aber das sei hier nur am Rande erwähnt.

Was mich überrascht hat, war die Tatsache, dass die EKD sehr viel Mühe darauf verwendet, die Basics zu erklären: Was passiert in einem G’ttesdienst? Was ist Ostern? Was ist eine Konfirmation? Und diese Liste könnte ich jetzt noch eine Weile fortsetzen.

Da wurde mir eigentlich erst schlagartig klar: Die beiden großen christlichen Kirchen sind längst nicht mehr in ihrer einst komfortablen Situation. Auch sie müssen ihre Religion, ihre Riten und Bräuche erklären, weil die Zahl der Menschen, die damit vertraut sind, seit Jahren sinkt.

Dieses mangelnde Wissen über Religion treffen wir nach vier Jahrzehnten DDR vor allem in den östlichen, aber auch in den westlichen Bundesländern an. Deshalb mutet es ja auch immer etwas kurios an, wenn gerade dort Pegida das christliche Abendland so sehr propagiert. Ich würde gerne mal den Test machen, wie viele Pegida-Demonstranten das „Vater-Unser“ aufsagen können.

Fehlendes Wissen führt sehr schnell zu Vorurteilen. Wenn dann noch Vorurteile hinzukommen, die seit Jahrhunderten tradiert werden, entsteht ein festes Weltbild, das nur schwer zu erschüttern ist.

Vor dieser Situation steht die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Wissen über das Judentum zu vermitteln und Begegnungen zu schaffen, sind daher für uns das Gebot der Stunde.

Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele nennen, wie wir versuchen, dieses Gebot umzusetzen.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat 2017 ein Projekt wiederbelebt, das wir schon einmal in Baden-Württemberg getestet hatten. Es nennt sich „Likrat – Jugend und Dialog“. Der hebräische Begriff Likrat bedeutet „aufeinander zu“. Für das Projekt haben wir in der ersten Runde 40 Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren ausgebildet, die jetzt jeweils in Zweier-Teams Schulklassen besuchen. Dort erklären sie gleichaltrigen Schülern – also auf Augenhöhe – was ihr Judentum ausmacht, wie ihr jüdischer Alltag aussieht, und - ja auch welchen Vorurteilen sie mitunter ausgesetzt sind. Die Jugendlichen sind ja weder Rabbiner noch Judaisten – daher schulen wir sie, damit sie sowohl alle Fragen zur Religion als auch Fragen zum Nahostkonflikt beantworten können.

Für die Schüler ist dies häufig das erste Mal, dass sie Juden in ihrem Alter kennenlernen. Die Hemmschwelle, alle Fragen loszuwerden, ist gegenüber Gleichaltrigen natürlich viel niedriger als gegenüber Erwachsenen oder gar Autoritätspersonen wie einem Rabbiner. Daher kommen meistens sehr lebhafte Gespräche zustande. Und die Jugendlichen gehen mit einer sehr wichtigen Erkenntnis nach Hause: Die sind zwar jüdisch, aber eigentlich gar nicht anders als wir.

Beim Zentralrat betrachten wir diese Begegnungen als wichtige Ergänzung zu Zeitzeugen-Gesprächen. Wir sind zutiefst dankbar, dass nach wie vor Überlebende der Schoa trotz ihres hohen Alters und ihrer Traumatisierung bereit sind, mit Schulklassen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Dies sind in der Regel Begegnungen, die keiner der jungen Leute je wieder vergisst.

Allerdings wird die Zahl der Zeitzeugen kleiner. Und es gibt in der Schule ohnehin die Tendenz, dass Juden stets nur als Opfer im Unterricht thematisiert werden. Ob als Opfer von mittelalterlichen Pogromen oder als Opfer der Schoa.

Abgesehen davon, dass die Inhalte der jüdischen Religion, die Gemeinsamkeiten mit dem Christentum und die jüdische Kultur kaum Beachtung finden, entwickeln dadurch manche Schüler das Gefühl, sie müssten sich schuldig fühlen. Das ist fatal. Denn dies hat verständlicherweise eine Abwehrreaktion zur Folge.

Neben unserem Likrat-Projekt, für das wir jetzt eine weitere Gruppe von jungen Leuten ausbilden, versucht der Zentralrat der Juden daher, auf noch viel breiterer Basis mit den Schulen zusammenzuarbeiten.

Ende 2016 haben wir mit der Kultusministerkonferenz erstmals eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, die darauf abzielt, das Judentum in seiner Breite und Vielfalt in der Schule zu vermitteln. Und ich habe mich sehr gefreut, dass der Koordinierungsrat diese Erklärung in die Materialien zum diesjährigen Motto der Woche der Brüderlichkeit aufgenommen hat.

Seit Anfang 2017 sind nun Experten von pädagogischer und von jüdischer Seite dabei, eine Materialsammlung für Lehrer zu erstellen. Bei einer Fachtagung in rund einem Monat in Berlin werden diese Materialien vorgestellt und diskutiert. Das Nicht-Wissen über das Judentum wollen wir systematisch bekämpfen. Das wollen wir nicht dem Zufall oder dem Engagement einzelner Lehrer überlassen.

Ich denke, sowohl Likrat als auch diese Handreichung für Lehrer samt der Vereinbarung mit der KMK sind Brücken, die es vielen, vielen jungen Menschen möglich machen, Gräben zwischen den Religionen zu überwinden und damit auch ihre Angst vor dem Unbekannten.

Die Fragen von Lehr-Inhalten und Lehrplänen ist in einem weiteren Bereich fast noch wichtiger: in den Integrationskursen. Hier müssen Lehrer in die Lage versetzt werden, Menschen unser Verständnis der deutschen Geschichte und unsere Werte nahezubringen, die aus mit Israel verfeindeten Staaten stammen. Unter den Flüchtlingen sind nicht wenige Menschen, für die es in der Schulzeit normal war, dass Israel auf den Landkarten fehlte, die von klein auf lernten, dass Juden sie töten wollen und Hitler ein Held sei.

Anfang 2017 hat der Zentralrat der Juden gemeinsam mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden und dem Zentralrat der Muslime ein Seminar für Flüchtlingshelfer gemacht. Ich kann Ihnen sagen: Am Anfang des Gesprächs ähnelte der Boden, auf dem wir uns bewegten, wirklich einer wackeligen Hängebrücke. Langsam näherten sich beide Seiten einander an. Um schließlich festzustellen: Alle hatten mit ganz ähnlichen Problemen zu tun und machten ähnliche Erfahrungen. Jüdische Flüchtlingshelfer berichteten, dass muslimische Flüchtlinge manchmal Angst bekamen, wenn sie hörten, dass ihr Gegenüber jüdisch ist. Weil sie ja gelernt hatten, dass Juden ihre Feinde seien. Dass Juden ihnen jetzt halfen – das passte nicht in ihr Weltbild.

In diesem Seminar ist es in wenigen Stunden gelungen, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Es ist eine stabile Brücke entstanden.

Ähnliches höre ich von Projekten, die im Rahmen des Programms „Weißt du, wer ich bin?“ zustande gekommen sind.

Mein sehr geehrten Damen und Herren,

wir brauchen sehr viele solcher kleiner Brücken, um das Miteinander in unserer Gesellschaft zu gestalten.

Doch es bedarf auch großer Brücken. Wenn kleine Brücken die ganze Last tragen müssten, brächen sie zusammen.

Der Zentralrat der Juden hat im vergangenen Jahr eine Forderung öffentlich gemacht, die kurz vor der Realisierung steht: Es ist, wenn Sie so wollen, der Bau gleich mehrerer Brücken vom höchsten Berg zu vielen Orten in diesem Land. Ich rede vom Antisemitismus-Beauftragten.

Dieser neue Beauftragte sollte partei- und ressortübergreifend die Maßnahmen des Bundes und der Länder gegen Antisemitismus beobachten und gegebenenfalls eingreifen. Er wird darauf achten, ob in unseren Behörden die internationale Antisemitismus-Definition umgesetzt wird. Und er wird das Thema Antisemitismus immer wieder öffentlich machen.

Leicht könnte man ihm die Rolle des Mahners zuschreiben. Aber ist er nicht vielmehr ein Brückenbauer? Erst wenn ein Missstand benannt ist und seine Ursachen analysiert sind, können wir wirksam diesen Missstand bekämpfen. Dann entstehen Brücken, die den Namen „Toleranz“ tragen, oder „Respekt“ oder „Interreligiosität“.

Meine verehrten Damen und Herren,

das Unwissen über andere Religionen oder Kulturen ist sicherlich eine der Hauptursachen für die Ängste in Deutschland.

Nach meinem Eindruck kommt eine weitere Ursache hinzu: ein fehlendes Wertegerüst. Mir scheint, dass vielen Menschen der Kompass verloren gegangen ist.

 

 

Das ist ja im Grunde nicht erstaunlich. In den östlichen Bundesländern brach 1989 die Partei weg, ja ein ganzes System, das seinen Bürgern das Wertegerüst vorgegeben hatte. Ohne Frage ein Gerüst mit sehr vielen Vorgaben, die unmenschlich waren und eigentlich den Begriff „Wert“ gar nicht verdienen. Dennoch blieben viele Bürger nach dem Zusammenbruch der DDR, der häufig auch den Arbeitsplatzverlust bedeutete, haltlos zurück.

Hinzukommen – wie ich bereits erwähnt habe - die Entwicklungen durch die Globalisierung und Digitalisierung, die die Menschen in Ost und West ängstigen. Zählt noch Kollegialität oder nur noch Profit? Zählt noch der Besuch bei meiner alten Nachbarin oder nur noch die Zahl meiner Facebook-Freunde? Kann ich es wagen, für meinen Chef am Abend nicht erreichbar zu sein oder bin ich dann raus?

Konsum, Individualität, Erfolg – das zählt in unserer Gesellschaft unheimlich viel. Wundert es uns dann, wenn Menschen zu Pegida-Demos gehen oder AfD wählen, die sich sozial abgehängt fühlen? Menschen, die spüren, dass sie diesem Erfolgsdruck nicht gewachsen sind?

Ich glaube, meine Damen und Herren, und das im wahrsten Sinne des Wortes, dass wir als Religionsgemeinschaften den richtigen Kompass besitzen. Und es ist unsere Aufgabe, mit diesem Kompass den Menschen Orientierung zu geben.

Auch dies ist für uns eine Motivation, dass das Judentum in den Schulen breiter vermittelt wird. Nächstenliebe, Hilfe für Bedürftige und die Verantwortung, die Welt ein Stückchen besser zu machen – das sind zutiefst jüdische Werte. Wir finden sie auch im Christentum und im Islam.  Um unser Land willen sollten wir Trendsetter sein und diese Werte wieder modern machen.

Ich möchte Ihnen dafür noch ein prominentes Beispiel geben aus einer Zeit, als das Christentum in Europa nicht mehr viel zählte und das Judentum ausgerottet werden sollte:

Am 22. Februar 1943, vor 75 Jahren, wurden die Geschwister Scholl hingerichtet. Woher hatten diese jungen Leute den Mut genommen, sich gegen das verbrecherische NS-Regime zu stellen? Regina Degwitz, die damals mit den Mitgliedern der „Weißen Rose“ befreundet war und heute in Berlin lebt, erinnerte sich anlässlich des Jahrestags. In einem Zeitungsinterview sagte Frau Degwitz: „Das waren alles junge Leute Anfang 20, die eine Entscheidung trafen, bei der es um Leben und Tod ging. Das Fundament, auf dem sie aufbauten, war der christliche Glaube.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

als Mitglieder und Freunde der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit haben Sie sich quasi dem Brückenbau verschrieben. Und ich weiß, wie viele von Ihnen nicht nur ehrenamtlich ihre Zeit in diese Arbeit stecken, sondern auch ihr Herzblut.

Ingenieure, die eine Brücke planen, haben es vergleichsweise leicht: Sie berechnen die Statik. Sie hantieren mit messbaren Größen.

Sie hingegen haben es mit fast völliger Unberechenbarkeit zu tun: mit menschlichem Verhalten. Sie können Brücken planen und bauen, aber werden immer wieder Rückschläge erleben.

Lassen Sie sich davon nicht entmutigen!

Jede noch so kleine Brücke, die Menschen miteinander verbindet und Ängste nimmt, ist kostbar.

Nehmen Sie sich die Gründer der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit zum Vorbild. 1948, als in Deutschland kein Stein mehr auf dem anderen lag, als die Brücken tatsächlich zerbombt oder gesprengt waren, vor allem aber, als die Wunden des größten Menschheitsverbrechens des 20. Jahrhunderts, der Schoa, noch tief und offen waren, 1948, nur wenige Jahre nach der totalen moralischen Bankrotterklärung Deutschlands, haben Juden und Christen ihre Ängste überwunden, sind aufeinander zugegangen und haben eine Brücke gebaut, die bis heute, 70 Jahre lang, hält.

Dafür sind wir dankbar! Das gibt uns Mut und Kraft für die Zukunft!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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